Das Heilsame der sozialen Dreigliederung


(Nach einem Vortrag von Peter Fischer-Wasels am 28. September 2020 in der Freien Waldorfschule Flensburg)
Sehr verehrte Anwesende, liebe Freunde,
ich möchte beginnen, wie wir das immer tun Montag-abends in unserem Forum Soziale Dreigliederung Flensburg, mit dem Wochenspruch von Rudolf Steiner:
Michaeli-Stimmung
Natur, dein mütterliches Sein,
Ich trage es in meinem Willenswesen;
Und meines Willens Feuermacht,
Sie stählet meines Geistes Triebe,
Dass sie gebären Selbstgefühl,
Zu tragen mich in mir.
Am Vorabend von Michaeli möchte ich schon eintauchen in diese Michaeli-Stimmung, hat sie doch auch ganz viel mit unserem Vortragsthema zu tun. Die soziale Dreigliederung ist für alle Menschen gedacht, aber verwirklicht wird sie von willensstarken, Ich-starken Menschen. Ich befeuere meine Denkkraft, meines Geistes Triebe, mit der Feuermacht meines Willens, der die mütterlichen Gebär-Kräfte der Natur in sich trägt; hieraus erwächst das Selbstgefühl, die Ich-Kraft, die in der Lage ist, sich selbst zu tragen, als individueller, unabhängiger Geist. Die drei Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen sind angesprochen, derer sich der Mensch gerade in der klärenden Herbsteszeit besonders bewusst werden kann.
Gegenwärtig erleben wir im Sozialen eine weltweite Krise durch die Folgen der Ausrufung einer sogenannten Pandemie, die kaum einen Menschen unberührt lässt. Für diese Krise erscheint als eine der Ursachen, die auch ihre Geschichte haben, der Einheitsstaat, die Zentralisierung der Macht. Dafür stellt die soziale Dreigliederung ein Heilmittel dar. Dabei sei vorweg betont, dass ich die Begriffe des sozialen Organismus und der Dreigliederung wie auch einige andere Begriffe im Sinne Rudolf Steiners verwende, denn zu Zeiten von Rudolf Steiner wie auch im dritten Reich wurden Begriffe wie „sozialer Organismus“ oder „organische Volkseinheit“ auch in ganz anderem Sinne benutzt.

Dreigliederungsideen erstmals vor hundert Jahren veröffentlicht
Vor hundert Jahren hat Rudolf Steiner mit der Dreigliederungsbewegung von 1919 direkt nach dem 1. Weltkrieg in eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs aktiv politisch eingegriffen, musste aber nach kurzer Zeit erleben, dass die Zeit noch nicht reif war, seine Ideen aufzugreifen. Und wie sieht das heute aus? Kann die aktuelle Krise bereit machen für die Aufnahme von Steiners immer noch neuen Ideen der Dreigliederung des sozialen Organismus?
Der Dreigliederungsbewegung von 1919 ging schon 1917, also während des Krieges eine Initiative voraus, in deren Rahmen Rudolf Steiner mehrere Memoranden schrieb, für die in Österreich und Deutschland höchste Staatsmänner gewonnen werden sollten, und in denen die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus erstmals von Rudolf Steiner schriftlich formuliert wurden. Hätten sich die damaligen Machthaber hinter diese Ideen stellen können, so war Steiner überzeugt, wäre ein Friedensschluss möglich gewesen, den wir heute noch nicht haben.
Im gleichen Jahre 1917 veröffentliche Rudolf Steiner erstmals nach über dreißig-jähriger Forschung die Idee der Dreigliederung des menschlichen Organismus. Diese natürliche Dreigliederung der Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen im Zusammenhang mit dem Nerven-Sinnes-System, dem Rhythmischen System und dem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System ist uns anthroposophischen Ärzten, Lehrern und anderen oft viel geläufiger und kann vielleicht den gedanklichen Einstieg in die soziale Dreigliederung erleichtern. Mir kam die Frage, ob und wie diese beiden gleichzeitig veröffentlichten Dreigliederungsideen auch inhaltlich etwas miteinander zu tun haben könnten? Die Antwort kommt am Schluss und könnte manchen überraschen.

Die Dreigliederung des menschlichen Organismus
Im 6. Anhang seines Buches „Von Seelenrätseln“ schrieb Rudolf Steiner 1917 unter der Überschrift „Die physischen und die geistigen Abhängigkeiten der Menschenwesenheit“ „skizzenhaft… über die Beziehungen des Seelischen zu dem Physisch-Leiblichen“ (Von Seelenrätseln, Seite 150) und räumt gleich mit einigen falschen Vorstellungen der materialistischen Wissenschaften wie Anatomie und Physiologie auf, indem er präzisiert: „Der Leib als Ganzes, nicht bloß die in ihm eingeschlossene Nerventätigkeit, ist physische Grundlage des Seelenlebens, und wie das letztere für das gewöhnliche Bewusstsein sich umschreiben lässt durch Vorstellen, Fühlen und Wollen, so das leibliche Leben durch Nerventätigkeit, rhythmisches Geschehen und Stoffwechselvorgänge.“ Doch wie genau müssen wir uns das Zusammenwirken zwischen den Seelenkräften und den Leibesorganen denken? Hier möchte ich Herbert Sieweke folgen, indem er darauf hinweist, dass „der leibliche Organismus und das seelisch-geistige Dasein … vom Ätherleib getragen (werden) und … durch ihn miteinander verbunden (sind).“ (Sieweke, Anthroposophische Medizin ²1982, Seite 118) Mit den Stufen der Jahrsiebte wandeln sich die Aufgaben des Ätherleibes. „Ein Teil der ätherischen Kräfte wird vom organischen Aufbau abgezogen, um für die Gestaltung des inneren Lebens verfügbar zu sein. Ein anderer Teil bleibt dem organischen Leben treu… Die Fähigkeit des leiblichen Bildens kehrt sich um in jene andere, Erlebnisse und Wahrnehmungen in innere Bilder umzusetzen.“ (Sieweke 119) In der Waldorfpädagogik beachten wir als Lehrer oder Schulärzte diesen ersten Siebenjahresschritt als Zeitpunkt der Schulreife mit Zahnwechsel und Gestaltwandel. Wir sprechen auch von einer zweiten Geburt, der Geburt des Ätherleibes. Dies meint, dass ein Teil der Lebenskräfte nicht mehr am Leibe arbeitet, sondern jetzt frei wird für die seelisch-geistigen Aufgaben des Lernens in der Schule. Wir können die Kopfkräfte, die Kräfte des Nerven-Sinnes-Systems, die dem Vorstellen und Denken zugrunde liegen, jetzt anders ansprechen in Erziehung und Unterricht als im ersten Jahrsiebt. In einem weiteren Siebenjahresschritt werden die Brustkräfte, die Kräfte von Atmung und Blutkreislauf teilweise frei. Bei Schulbeginn hieß es: das Kind muss atmen lernen (Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde, 1. Vortrag), jetzt (mit 12 bis 14 Jahren) kommt die Atemreife, aber auch die Erdenreife, die Geschlechtsreife; die Gefühle werden in neuer Weise als eigene Empfindungen, Emotionen erlebt. Und wir sprechen von der Geburt des Astralleibes, die begleitet ist von einem weiteren Wandlungsschritt des Ätherleibes im Bereich des Rhythmischen Systems, das dem Fühlen zu Grunde liegt. Der dritte Siebenjahresschritt bringt die Freiheit im Wollen mit der sogenannten Ich-Geburt, der Mündigkeit oder Volljährigkeit, mit 18 bis 21 Jahren. Inwiefern der Ätherleib gleichzeitig einen weiteren Wandlungsschritt im Gebiet des Stoffwechsels vollzieht, wäre eine weiterführende Forschungsfrage.
Mit diesem Blick auf die Wandlungen des Ätherleibes verstehen wir vielleicht etwas besser, was Rudolf Steiner zum Verhältnis der drei Seelenfähigkeiten Vorstellen, Fühlen und Wollen mit den drei physisch-leiblichen Gliedern Nerven-(Sinnes-)System, Rhythmisches System und Stoffwechsel-(Gliedmaßen-)System äußert. Sieweke schreibt: „Im Sinnes-Nervensystem wird das Ätherische am weitesten vom organischen Wirken befreit und zum seelisch-geistigen Tun verwendet. Die Eigentümlichkeit des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems dagegen beruht darauf, dass das Ätherische zum großen Teil im Organischen gebunden bleibt und nur fakultativ abgehoben wird… Zwischen beiden webt ein zu jeder Zeit nach der einen oder anderen Seite verfügbares Element.“ (Sieweke 121f) Das Vorstellen stützt sich auf die Nerventätigkeit wie das Wollen auf die Stoffwechseltätigkeit und dazwischen das Fühlen auf den Rhythmus, auf unseren Atem- und Puls-Rhythmus, aber auch andere Rhythmen sind beteiligt. Die Sache wird schwierig, wenn wir Steiner genau lesen: „Die leiblichen Vorgänge im Nervensystem, welche dem Vorstellen die Grundlage geben, sind physiologisch schwer zu fassen. Denn, wo Nerventätigkeit stattfindet, da ist Vorstellen des gewöhnlichen Bewusstseins vorhanden. Der Satz gilt aber auch umgekehrt: wo nicht vorgestellt wird, da kann nie Nerventätigkeit gefunden werden, sondern nur Stoffwechseltätigkeit im Nerven, und andeutungsweise rhythmisches Geschehen.“ (Von Seelenrätseln 156f) Die Nerventätigkeit ist aber positiv, physiologisch gar nicht zu beobachten, sondern nur – wie Steiner schreibt – „durch eine Methode der Ausschließung“ (Von Seelenrätseln 157). Anders ausgedrückt ist die Nerventätigkeit eine abbauende; überall, wo Bewusstsein im Seelischen entsteht, wird im Physischen abgebaut. Und was der Physiologe sinnlich beobachten kann, ist nicht Nerventätigkeit, sondern sind Stoffwechselvorgänge, von denen alle Nerventätigkeit immer auch begleitet ist.
Auf zweierlei ist an dieser Stelle hinzuweisen: Überall im Organismus ist Aufbau und Abbau gleichzeitig vorhanden, am Lebensanfang überwiegt der Aufbau, der leibliche Aufbau, zum Lebensende hin der Abbau, der Leibesabbau. Der Stoffwechsel dient dem Aufbau des ganzen physisch-leiblichen Organismus. Und die Nerven-Sinnes-Tätigkeit verbraucht die leiblichen Ressourcen abbauend, um seelisch-geistige Funktionen, die mit Bewusstsein einhergehen, zu entwickeln. Dazwischen vermittelt das rhythmische System, indem es von beidem hat, geschmeidig abwechselnd.
Und die drei Organismus-Funktionen sind immer zugleich an jeder Stelle des Organismus vorhanden. Keine ist allein, wenn der Organismus gesund ist. Wo Nerventätigkeit ist, ist auch rhythmische und Stoffwechseltätigkeit, nur dominiert die Nerventätigkeit. Wo Stoffwechsel ist, ist auch rhythmische und Nerventätigkeit, nur dominiert die Stoffwechseltätigkeit. Und bezogen auf die menschliche Gesamtgestalt kann man sagen: es gibt Pole, einen Nerven-(Sinnes-)Pol, den nennen wir auch Kopfpol, und einen Stoffwechsel-(Gliedmaßen-)Pol, man könnte auch sagen: Bauchpol, und dazwischen ausgleichend liegt das rhythmische Gebiet, das rhythmische System, das sich konzentriert in der Brust. Aber überall ist alles zugleich tätig. Dies kann sich der Materialist nur schwer vorstellen, denn im Bereich der toten Materie gibt es nur ein Nebeneinander. Die drei Systeme sind je einzeln genau zu bestimmen, wirken im lebenden Organismus jedoch immer zusammen.
Nun kann es aber sein, dass diese verschiedenen Systeme nicht in gesunder Weise zusammenwirken, dass zum Beispiel das Stoffwechselsystem zu stark wird und seine Tätigkeit im Bereich des Nervensystems über das gesunde Maß hinaus intensiviert, dann entsteht als eine Krankheit die Migräne. Und der Arzt wird nach einer Medizin gefragt. Für die Migräne hat Rudolf Steiner ein Medikament angegeben, an dem man die Dreigliederung in gesunder Weise ablesen kann. In der Natur findet man einen der Migräne entsprechenden Prozess im Schachtelhalm, Equisetum arvense, bei dem die Kieselsäure in bestimmter Weise zusammenwirkt mit schwefelsauren Salzen, zusammen mit harzigen Bindemitteln. Nun kann man aber Equisetum arvense nicht direkt einführen, sondern muss es im Laboratorium erst eine Stufe emporheben; dies geschieht, indem man Kieselsäure und Schwefel nimmt und mit Eisen als „Bindemittel“ in besonderer Weise zubereitet. Dieses Medikament wurde Biodoron genannt, später auch Kephalodoron, und konnte und kann in entsprechenden Krankheitsfällen sehr erfolgreich angewendet werden.
So kann es die verschiedensten Krankheitsprozesse geben, bei denen das harmonische Zusammenwirken der drei Glieder des Gesamtorganismus gestört ist. So könnte es auch zum Beispiel durch eine zu stark formende, abbauende Nerventätigkeit im Stoffwechselgebiet dort zu Krankheiten kommen. Das möchte ich jedoch jetzt nicht weiter verfolgen, sondern mit den bisherigen Ausführungen nur auf das Heilsame der Dreigliederungsidee im Medizinischen, im menschlichen Organismus vergleichsweise hingewiesen haben.
Und wie Rudolf Steiner die menschlich-natürliche Dreigliederung sich nicht ausgedacht hat, sondern in über dreißigjähriger Forschung gefunden hat, so hat sich ihm auch für den sozialen Organismus in der übersinnlichen Anschauung eine dreifache Gliederung ergeben als etwas, was der Geist der Zeit und der Gegenwart verwirklichen will und auch verwirklicht. (Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen. Vortrag Stuttgart 21.04.1919 – GA 192, ²1991, S. 18)
Die Dreigliederung des sozialen Organismus
Im Laufe des 19. Jahrhunderts und seitdem zunehmend hat sich die Wirtschaft aus dem mittelalterlichen Handwerk über die regionale, städtische und Staatswirtschaft zur Weltwirtschaft entwickelt. Die technischen Neuerungen der Industrialisierung im Zusammenhang mit Kapitalismus, Materialismus und Arbeitsteilung haben nicht nur die Produktionsbetriebe wesentlich vergrößert, sondern auch die politischen Grenzen und Beschränkungen weitgehend überwunden und durch zunehmende Machtentfaltung zum eigenen Vorteil beeinflusst. Die Politik, das Staatswesen wurde zunehmend mit dem Wirtschaftswesen verflochten und das Geistesleben zugleich immer unfreier.
Die Situation Mitteleuropas vor Ausbruch des 1. Weltkriegs war so, dass es seine eigentliche Mission nicht wahrnahm und in unheilvolle Konkurrenz zu den Nachbarstaaten geriet. Statt im Sinne des Zeitgeistes ein freies Geistesleben zu entwickeln, das lichte Zeitalter zu begründen und die Entwicklung des menschlichen Individuums in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens zu stellen, konnten sich Materialismus, Kapitalismus und Egoismus im Einheitsstaat ungehemmt entfalten. Für die anderen Länder konnte nicht erkennbar sein, warum Mitteleuropa etwas anderes sein sollte als der Konkurrent, mit dem man um Land, wirtschaftliche Macht und weltpolitischen Einfluss streiten muss. Christopher Clark nannte sie Schlafwandler, die damaligen Politiker, die Europa und die Welt in den ersten Weltkrieg führten. (Christopher Clark, Die Schlafwandler . Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, 2012) Rudolf Steiner hatte 1917 Gelegenheit, „einzelnen Persönlichkeiten Mitteleuropas“ (Rudolf Steiner, Anthroposophie und Sozialwissenschaft. Vortrag Berlin 09.03.1922, GA 81, ¹1994, S. 109) seine Einschätzung der weltpolitischen Lage in mehreren Memoranden aufzuschreiben und erstmals die Ideen zur Dreigliederung des sozialen Organismus zu entwickeln. Das Eingehen auf das 14-Punkte- Programm des Woodrow Wilson war dabei ein wichtiger Punkt.
Die drei Glieder des sozialen Organismus sind: Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben. Der einzelne Mensch, das Individuum hat immer Anteil an allen drei Gliedern.
Zum Geistesleben zählen Wissenschaft, Kunst und Religion, Unterricht, Schule und Erziehung, Bildung, Kultur. Insofern der Mensch Begabungen, Talente, Fähigkeiten hat, die angeboren sind, die er mitbringt, die ihm geschenkt sind, und Fertigkeiten, die er im Laufe des Lebens entwickelt, indem er lernt, indem er etwas kann, geschickt wird, nicht nur in Bezug auf intellektuelles Vermögen, sondern auch ganz körperlich, handwerklich und natürlich auch künstlerisch – all dies gehört in den Bereich des Geisteslebens. Zum Geistesleben gehört auch die Berufsausbildung. Alles, was an Ideen dem Rechts- und Wirtschaftsleben zugrunde liegt, Erfindungen, Organisationstalent, Fachliteratur, Rechtsanschauungen, sittliche Impulse, das alles stammt aus dem Geistesleben. Und im Geistesleben herrscht Freiheit. Da gilt keine Gleichheit, da sind wir verschieden, individuell. Da gilt der Ratschlag als Umgangsform untereinander, der auf Erkenntnis beruht. In älteren Zeiten herrschte hier das Gebot, letztlich das göttliche Gebot.
Das Rechtsleben ist der Bereich, in dem wir alle gleich sind, indem wir ein Menschenantlitz tragen, indem wir uns als physische Menschen begegnen, die miteinander auf demokratischem Boden die Rechtsimpulse, die Sittenimpulse ausbilden, als mündige Menschen miteinander verhandeln und Gesetze bilden, die für alle Menschen gleich gelten für den Fall, dass … Der Fall muss nicht eintreten, aber wenn er eintritt, für diesen Eventualfall gilt das Gesetzt als Regel. Das ist die Domäne der Demokratie, der Parlamente, der Volksabstimmung. Das Rechtsleben, der Rechtsstaat ist auch für die innere und äußere Sicherheit zuständig, also für Polizei und Militär. Der Staat darf nicht das Geistesleben bestimmen und auch nicht das Wirtschaftsleben. Darüber hat 1792 (zur Zeit der französischen Revolution) Wilhelm von Humboldt eine interessante Schrift verfasst: „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“. Humboldts zentrale These war, dass der Staat sich nicht um das positive Wohl seiner Bürger, sondern nur um das negative Wohl seiner Bürger kümmern soll. Humboldt schrieb: „der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.“ In einem Brief an Gentz schrieb Humboldt 1791: „das Prinzip, dass die Regierung für das Glück und das Wohl, das physische und das moralische, sorgen muss, ist gerade der drückendste und ärgste Despotismus.“
Zum Wirtschaftsleben gehören Warenerzeugung, Warenzirkulation, Warenverbrauch. Hier geht es um konkrete, individuelle Bedürfnisse, die zu befriedigen sind. Hier herrschen Sach- und Fachkenntnis. Und Arbeitsteilung. Die, die es am besten können, sollen zum Zuge kommen. In sogenannten Assoziationen schließen sich die Akteure von Produktion, Handel und Konsum zusammen und regeln in Verträgen ihr Wirtschaften. Verträge regeln immer konkrete Verhältnisse verbindlich für eine bestimmte Zeit. Im Wirtschaftsleben soll Brüderlichkeit herrschen oder moderner ausgedrückt: Solidarität.
Nun sind die drei Bereiche miteinander immer auch verflochten und da gilt es, noch einige Begriffe neu zu verstehen. Solche Begriffe sind: Kapital, Arbeit und Ware. Heute – unter der Herrschaft des Wirtschaftlichen über das ganze soziale Leben – wird alles zur Ware: Kapital und Arbeit werden eingekauft, geliehen, bezahlt.
Zum Kapital gehören Grund und Boden mit seinen Schätzen, gehören die Produktionsmittel, die Fabriken – dies alles zählt Rudolf Steiner zum Geistesleben. Dies soll nicht zur Ware werden, sondern die Fähigsten sollen das jeweilige Kapital, das Stück Land, die Fabrik treuhänderisch zur Verfügung gestellt bekommen und damit wirtschaften, solange sie das gut machen. Und wenn jemand es nicht mehr gut macht, soll jemand anderem das Kapital zur Verfügung gestellt werden, um damit weiter zu wirtschaften. Das Wort Vermögen erleichtert vielleicht das Verstehen: gebräuchlich ist die Bedeutung von Geld, Besitztum, Kapital; mit Vermögen bezeichnen wir aber auch ein Können, eine Kraft, ein Möglich-machen-Können, also etwas Geistiges. Und mit dem Vermögen, dem Kapital soll der Fähige verantwortungsvoll umgehen können, solange er es gut macht.
Arbeit ist zunächst ganz unabhängig vom Wirtschaftsleben etwas, was der Mensch aus sich heraus mit seiner Kraft tut, ob er Sport treibt oder Holz hackt, er verbraucht dabei seine Arbeitskraft. Es kommt darauf an, was ihn antreibt, zu was er inspiriert ist; wenn der Mensch in rechter Weise inspiriert ist, in den sozialen Zusammenhängen einsichtsvoll und sinn-erfassend drinnen steht, dann kann er aus Lust und Liebe zur Arbeit ganz selbstverständlich da arbeiten, wo es nötig ist. Und im Rechtsleben werden die Bedingungen, Zeit, Maß und Art der Arbeit durch Gesetz geregelt, unabhängig von den Wünschen der Wirtschaft. Für die Wirtschaft sind die Arbeitsgesetze wie die Bodenverhältnisse grundlegende, von außen gegebene Tatsachen. Im Wirtschaftsleben gibt es dann keinen Arbeitslohn, sondern Arbeitsleiter und Arbeitsleistende (Bezeichnungen von Steiner) regeln vertraglich, wie der Gewinn anteilig zu verteilen ist.
Ware: Rudolf Steiner: „Ich nenne Ware jede Sache, die durch menschliche Tätigkeit zu dem geworden ist, als das sie an irgendeinem Orte, an den sie durch den Menschen gebracht wird, ihrem Verbrauch zugeführt wird.“ (Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23, ⁶1976, S. 71) Dies und nur dies wird ganz vom Wirtschaftsleben bestimmt. Kapital und Arbeit sind Faktoren, derer sich die Wirtschaft gemäß entsprechender Vereinbarungen beziehungsweise Gesetze bedient.
Noch zu einzelnen Begriffen:
Preis: Steiner: „… ein gesundes Preisverhältnis der erzeugten Güter … Dieses muss so sein, dass jeder Arbeitende für ein Erzeugnis so viel an Gegenwert erhält, als zur Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse bei ihm und den zu ihm gehörenden Personen nötig ist, bis er ein Erzeugnis der gleichen Art wieder hervorgebracht hat.“ (Grundfragen 165)
Steiner: „Der sozial richtige Wert eines Gutes (einer Ware) kann sich nur im Vergleich mit anderen Gütern ergeben.“ (Rudolf Steiner, Die Dreigliederung des sozialen Organismus, die Demokratie und der Sozialismus, Aufsatz, GA 24, ²1982, S. 216)
Steiner unterscheidet: Im Geistesleben geht es um Erkenntnis und den Ratschlag, Im Rechtsleben geht es um das Gesetz, Im Wirtschaftsleben geht es um den Vertrag.
Ein weiteres Merkmal der Unterscheidung ist das Urteil. Das Geistesleben ist an die menschlichen Individualitäten gebunden; da gilt das Individuelle Urteil. Im Rechtsleben gilt das demokratische Urteil, das was die mündigen Menschen miteinander beschließen. Im Wirtschaftsleben gilt das Kollektivurteil. Da kommen in der Assoziation, in der Genossenschaft die fachlich-sachlichen Einzelurteile zusammen zum gemeinsamen „Kollektivurteil“.
Abschließend bleibt noch die Frage zu klären, was die beiden Dreigliederungen miteinander zu tun haben. Da scheint es ja nahe zu liegen, dass man sagt: Nerven-Sinnes-System beim Menschen entspricht dem Geistesleben im sozialen Organismus und Stoffwechsel-Gliedmaßen-System dem Wirtschaftsleben. Das aber – so Steiner – ist Analogiedenken, es ist genau umgekehrt: „Der Kopf des sozialen Organismus ist das Wirtschaftssystem. Das rhythmische System ist das Staatssystem. Und das Stoffwechselsystem ist in der geistigen Organisation beschlossen. … Wenn ein gewisses Volk in einer reichen Gegend wohnt mit vielen Erzgruben, mit reichen Bodenschätzen, mit fruchtbarem Boden, so ist der soziale Organismus begabt, bis zur Genialität kann er begabt sein.“ (Rudolf Steiner, Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen, Vortrag Dornach 22.03.1919, GA 190, ³1980, S. 33)
Also: Das Nerven-Sinnes-System beim menschlichen Organismus entspricht dem Wirtschaftsleben im sozialen Organismus und das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System dem Geistesleben. Hier ist der Gesichtspunkt von Aufbau und Abbau wieder wichtig. Was vom Geistesleben kommt, nährt, wird im Rechts- und Wirtschaftsleben gebraucht, benützt und nutzt sich ab. Die Erneuerung muss immer wieder vom Geistesleben kommen.
Und wenn die Entflechtung des Einheitsstaats und Überführung zur Dreigliederung nicht auf einmal einzurichten ist, so ist mit der Befreiung des Geisteslebens zu beginnen. Ein erster, anfänglicher Schritt wurde mit der Gründung der Waldorfschule getan.

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