Historie

Soziale Dreigliederung Historisches
Die Gründung der ersten freien Waldorfschule vor über 100 Jahren- 1919 in Stuttgart für die Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria Fabrik- hängt maßgeblich mit der von Rudolf Steiner gewonnenen Erkenntnis zusammen, dass der soziale Organismus wie der menschliche Organismus als dreigegliedert zu betrachten ist. Es sind dies die Bereiche des Geisteslebens (Bildung, Wissenschaft, Kunst, Kultur, Religion), des Rechts- und Staatslebens und des Wirtschaftslebens. Ausgehend von den großen Idealen der französischen Revolution gilt für das Geistesleben als gesunde Qualität die Freiheit, für das Rechts- und Staatsleben die Gleichheit (Demokratie) und für das Wirtschaftsleben die Brüderlichkeit, zu verstehen als solidarischer, urchristlicher, am Gemeinwohl orientierter Gedanke, um zu einer erd- und menschengemäßen Wirtschaftsweise zu kommen.

Während und nach dem 1. Weltkrieg traten bedeutende Persönlichkeiten und Politiker aus Deutschland und Österreich an Rudolf Steiner mit der Bitte um Rat heran, wie es nach diesem Zusammenbruch und als Folgerung aus dieser Katastrophe weiter gehen könnte. Steiner formulierte damals:
„Wie der natürliche Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die Lunge besorgen muss, so ist dem sozialen Organismus die Gliederung in Systeme notwendig, von denen keines die Aufgabe des anderen übernehmen kann, jedes aber unter Wahrung seiner Selbständigkeit mit den anderen zusammenwirken muss.“
Hätten die damaligen Machtinhaber seine Ideen aufnehmen können und umsetzen wollen, so war Steiner überzeugt, wäre ein wirklicher Friedensschluss möglich gewesen.
1919 veröffentliche Rudolf Steiner das Buch „Kernpunkte der sozialen Frage“ (Gesamtausgabe GA Nr.23, im Taschenbuch-Format erhältlich) als wesentliche Grundlage, die drängende Frage nach einem menschenwürdigen Dasein über positive Einzelinitiativen hinaus (heute z.B. solidarische Landwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Bürgerräte), in den alle und alles umfassenden geistigen Zusammenhängen neu zu denken. Im Anhang dieses Buches ist „Der Aufruf an das deutsche Volk und die zivilisierte Welt“ abgedruckt, der in den wichtigsten Zeitungen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs zu Beginn des Jahres 1919 veröffentlich wurde. Dieser Aufruf hatte mehr als 250 Unterzeichner. Menschen, die aus der kulturellen und wirtschaftlichen Welt anerkannt waren. Obwohl er nicht den erwarteten Erfolg hatte, inspirierte er in der Folgezeit verschiedene Initiativen, die mit dem sozialen Wandel verbunden waren, wie die Waldorfpädagogik, die Camphill-Bewegung oder das ethische Bankwesen.

Rudolf Steiner hat in seinen zahlreichen Vorträgen, die er in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg vor tausenden von ArbeiterInnen, UnternehmerInnen, StudentInnen und KünstlerInnen gehalten hat, immer wieder betont, dass die heilsamen Gedanken der sozialen Dreigliederung keine Utopie darstellen, sondern dem Leben entspringen, aus der physischen, seelischen und geistigen Wirklichkeit heraus gelesen sind.

Rudolf Steiner 1919:
„Über dasjenige, was in den Forderungen der Gegenwart lebt, kann eigentlich gar nicht diskutiert werden. Das sind historische Forderungen. Eine historische Forderung ist der Sozialismus, er muss nur in dem richtigen sinne verstanden werden. Eine historische Forderung ist aber auch der Liberalismus, wenn auch diese Forderung von der Menschheit wenig bemerkt wird. Und die Menschheit wird nicht weiter mitreden können, ohne dass sie ihren Organismus im Sinne der Dreigliederung: des Sozialismus für das Wirtschaftsleben, der Demokratie im Rechts- und Staatsleben, der Freiheit des Individualismus im Geistesleben einrichtet. Das wird angesehen werden müssen als das einzige Heil, die wirkliche Rettung der Menschheit.“

Man kann es auch so sagen: Der dreigegliederte Organismus ist existent, der soziale Organismus ist schon dreigegliedert! So finden sich auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wesentliche Inhalte, die Rudolf Steiner mit der Dreigliederung vorgeschlagen hatte:
Freiheit der Kultur, der Forschung, der Lehre, Meinungs- und Pressefreiheit; Gleichheit aller Bürger gegenüber den Gesetzen,
die Dreiteilung der Gewalten oder
die Selbstständigkeit von Unternehmen und für vom Staat unabhängige Einrichtungen und Vereinigungen.